Donnerstag, 27. Dezember 2012
Chuzpe und Ambiguitätstoleranz
Chuzpe ist ein jiddischer Begriff. Er bedeutet so viel wie: Frechheit. Frech sein um etwas zu erreichen, für das auf anderem Weg viel mehr Aufwand hätte betrieben werden müssen. Mit etwas List, Witz und vielleicht sogar Charme wird der Weg sozusagen abgekürzt. Vielleicht steht Chuzpe mehr für die allgemeine Haltung der westlichen Welt als für das Judentum. Ich würde ihn gerne hier mit der westlichen Welt in Verbindung bringen.
Ambiguitätstoleranz wird interessanter Weise mit dem Islam in Verbindung gebracht. Ich will das erweitern und sie mit der östlichen Lebenshaltung verbinden.
Es geht hier um den Willen. Einmal – im Fall von Chuzpe – ist er schlagfertig, direkt und unmittelbar. Er trifft, verändert, erlöst. Er ist erfolgreich und stark. Allerdings kann er auch verheerend sein. Seine Kehrseite blockiert, entmutigt und entmachtet. Der Superkluge setzt sich durch. Er bestimmt. Im anderen Fall, wenn es um die Ambiguitätstoleranz geht, ist der Wille zurückgehalten. Er beschreibt, nimmt wahr, er fließt sanft, zieht sich eher zurück und bleibt aufmerksam. Er steigert die Aufmerksamkeit förmlich auf seinem Rückzug.
In einer Zeit, in der wir alle Macht bekommen (es gibt ja keine Indianer mehr sondern nur noch Häuptlinge), müssen wir uns wohl oder übel mit dieser Frage auseinandersetzen. Schließlich trifft es uns alle. Stellen wir uns vor, wir wollen samstags ein Päckchen bei der Post aufgeben. Wir haben Pech, wohnen in der Stadt und die Schlange steht bis auf die Straße. Innen wird an drei (von acht) Schaltern gearbeitet. Irgendwo laufen zwei Angestellte herum, die an langen Listen arbeiten). In relativ langen Abständen kommen unzufriedene (jedenfalls scheinen sie angestrengt) Postkunden mit Zetteln oder Paketen in der Hand aus der Filiale.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Wir stellen uns brav in die Reihe, üben uns in Geduld, hören vielleicht einen Podcast, sprechen mit der Begleitung, wir beobachten, nehmen die vielen Angebote wahr, lassen uns anregen und so weiter. Oder wir kehren um, geben unseren hart erkämpften Parkplatz auf und fahren zur nächsten Filiale, zu einem Servicepartner oder zu einer Packstation. Möglicherweise haben wir Glück und es geht ganz schnell (und ist vielleicht sogar billiger).
Mein letztes Jahr war immer wieder geprägt durch diese Möglichkeiten. Im privaten Bereich und im Arbeitsbereich. Wann muss ich mich zurückhalten, aushalten, beobachten, lernen, und sogar unterstützen? Und wann muss ich ganz frech eine Entscheidung treffen um Situationen zu lösen?
Vor einigen Monaten haben wir auf einer privaten Israelreise die Golanhöhen besucht. Ein schrecklicher Ort. Man sieht von oben weit in die syrische Ebene. Auf dem Bergrücken hinten lugen hunderte lange Antennen hervor. Man weiß, man spürt, man wird beobachtet. Das Gefühl hat man in Israel öfter. „Nur zu deiner Sicherheit“. Im letzten Sommer wäre das nicht mehr möglich gewesen. Aus Syrien wurde geschossen. Natürlich lassen sich die Israeli das nicht bieten. Man kennt hier die Ambiguität nicht. Toleranz ja, aber keine Ambiguität. Das Weitere ist bekannt, es gab eine weitere Eskalation im Konflikt, die glücklicherweise wieder aufhörte.
Sicher, die Frage ist, wo war nun die Ambiguität des Islam? Hierzu gibt es mehrere Antworten. Aber eine möchte ich nennen: wenn wir lange aushalten müssen, dann kommt es irgendwann vielleicht zu einem Ausbruch. Die Seele, das Gefühl schlägt durch. Es lässt sich nicht mehr kontrollieren. Dann zählt nur der Wille. Es herrscht Zerstörung. So etwas ist geschehen. Nicht nur in Syrien und in Gaza. Auch in Ägypten und anderen islamischen Staaten.
Wer lange Konferenzen erlebt, ist ab und an froh, wenn einer ganz frech eine Lösung ins Plenum ruft und so die gemüthaften Äußerungen der Kollegen mit einem Hieb beendet, die Stimmung zerteilt und alles auf neue Beine stellt. Dann hat Chuzpe „gesiegt“. Zum rechten Zeitpunkt eine aufmerksame Bemerkung und die ganze Gruppe profitiert. Würde aber ständig dazwischen gerufen, würde es nur noch nerven und keiner käme zu Wort.
Andererseits kann es auch sehr lehrreich sein, die reflektierende Gruppe zu beobachten, zu imaginieren, wie diese wachen Geister vor 20 oder 30 Jahren ausgesehen haben, was ihr Leben bestimmt hatte und welches die Antriebe sind. Man erinnert sich an die 5 Säulen der Identität und lernt unwahrscheinlich viel vom Leben. Vielleicht schließt man sich nicht wirklich dem gefundenen Beschluss an, man erwägt noch einmal eine gegensätzliche Position zu vertreten. Aber es kommt gar nicht mehr darauf an. Die Zufriedenheit kommt nicht aus der Bestätigung sondern aus der Beobachtung.
Irgendwie kann ich mich nicht recht entscheiden. Will ich nun lieber Chuzpe oder Ambiguität? Beides ist vielleicht weniger Widerspruch als es mir vorkommt. Und doch haben beide Haltungen ihren Charme.
Wie schön ist es, andere zu irritieren, ihnen aus den Tiefen der Verstandes- und Gemütsseele zu helfen? Einfach durch wenige Worte, eine scharfe Bemerkung? Und wie lehrreich ist es zu beobachten, zu warten und vielleicht begleitet von den Nebenübungen von den anderen zu lernen?
Im letzten Jahr half es mir meine Welt besser zu verstehen. Ich konnte direkten Angriffen häufiger mit einem netten „Hoppla“ oder „WOW“ begegnen und langwierige, schwierige Prozesse mit Interesse und hoher Konzentration verfolgen ohne unruhig oder gar wütend zu werden.
Reinhard Vieser, Weihnachten 2012
Lieteratur: 5 Säulen der Identität: Hilarian Petzold, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam: Thomas Bauer. Versuch's doch mal mit Chuzpe: Martin Morlock
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