Transition - der neutrale Entwicklungsförderer -
Wer sich längere Zeit mit dem Thema Schule beschäftigt, wird irgendwann mit einer Frage konfrontiert: Warum lernen einzelne Kinder besser als andere? Diese Frage tritt in Wirklichkeit ja sehr viel häufiger in der anderen Richtung auf: Warum gibt es einzelne Schüler, die nicht wie die anderen lernen?
Oft scheint das sofort nach vollziehbar zu sein, denn es gibt eben Schüler, die weniger intelligent sind. Es gibt Schüler, die sich nicht an Regeln halten, keine Hausaufgaben machen und zu spät kommen. Sie besuchen schlicht die falsche Schule.
Ich habe über 20 Jahre an einer kleinen Förderschule als Lehrer und Geschäftsführer gearbeitet. Dabei gab es ein sehr merkwürdiges Phänomen, das ich nie wirklich verstanden habe bis ich heute, wieder in der Funktion eines Geschäftsführers an einer Schule mit 4 Schularten, bemerke, wie sehr diese Frage mit Transition zu tun hat.
Zunächst das Phänomen: Es gab eine Anzahl von Kindern an unserer Förderschule, die es schafften, am Ende ihrer Schulzeit die Prüfung zum Abitur zu bestehen. Das ist für sich genommen etwas ungewöhnlich aber nicht weiter bemerkenswert. Gleichzeitig haben aber alle Schüler der Förderschule, deren Eltern ein Lehrerseminar besucht haben, in die Regelschule gewechselt, was Voraussetzung für die Zulassung zum Abitur war. Und das ist das Erstaunliche, denn es waren tatsächlich alle.
Offensichtlich hat die Weiterbildung der Eltern dazu geführt, dass sich die Kinder sich in einer bestimmten Weise weiterentwickelt haben. Heute erlebe ich die Fragestellung etwas erweitert. Es scheint, wie schon angedeutet, die Begrifflichkeit der Transition hier eine Rolle zu spielen.
Transition umschreibt in neutraler Weise pädagogische oder individuelle Veränderungsprozesse. Dabei kann es sich um Krisen handeln, muss es aber nicht. Die Transition ist das Vehikel, das Entwicklung befördert.
Unsere Schule hier in Stuttgart hat ihre Arbeit aufgenommen in den späten 60er Jahren. Der erste Slogan der Menschen, die mit der Idee der Schulgründung umgingen war: „Wollen wir sie treiben lassen oder Schulen für sie bauen?“ Man wusste damals, dass in jedem Menschen Ressourcen schlummern, die mit Hilfe eines Transitionsprozesses erschlossen werden können.
Wer also mit Schülern konfrontiert ist, die nicht gut lernen, die zu spät kommen oder die gar frech sind, hat zwei Möglichkeiten: Er kann sich verweigern und urteilen (benoten), er kann Regeln einfordern oder Sanktionieren.
Oder aber er sucht nach schlummernden Talenten, forscht nach dem guten Grund, der dazu führt, nicht pünktlich zu sein und findet das Trauma, den Trigger um positive Signale senden zu können und die Vertrauensgrundlage für eine freundliche Atmosphäre schaffen.
Ich wende mich nicht wirklich gegen die Traumapädagigik. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass ein Einsatz im Gazastreifen lediglich davon ablenkt, Transitionen vor Ort zu erkennen und hier eben jenes zu tun, das den Gazastreifen retten soll.
Dies ist insofern durchaus die Aufforderung, Transition als notwendige Entwicklungserscheinung anzuerkennen und vor diesem Hintergrund den Mut zu fassen, pädagogisch nicht nach Regelwerken und Formen zu suchen, sondern sich selbst in die Transition aufzubrechen um Lebens- und Entwicklungsfragen nachhaltig anzugehen.
Wenn wir als Lehrer, Erzieher oder Sozialpädagogen einsehen, dass jede an uns gerichtete Herausforderung ausschließlich etwas mit uns zu tun hat, beginnen wir uns selbst in Transition zu begeben und erreichen beim Gegenüber eine nachhaltige Entwicklung, die am Ende der Schulzeit, beim Rückblick auf die Schule das Selbstbewusstsein erzeugt, von Persönlichkeiten unterrichtet worden zu sein. Das ist dann Waldorfpädagogik.
Reinhard Vieser