Sonntag, 26. März 2023

 




Abschied 


und Neubeginn


Liebe Mitglieder der Schulgemeinschaft,


als ich mit 27 Jahren meine erste Stelle als Klassenlehrer an einer kleinen Waldorfschule im Saarland, der Johannes-Schule in Bildstock, begonnen hatte, lagen bereits 7 Jahre Ausbildung und Arbeit als Heilpädagoge in Frankreich und der Schweiz hinter mir. Meine erste Klasse führte ich als Klassenlehrer 8 Jahre. Unsere Schule befand sich damals, 1989 noch im Aufbau, so dass ich viele Fächer unterrichten musste und gleichzeitig immer wieder in Eigenleistung mit den Eltern unseren Schulhaus-Altbau umbauen und erweitern musste. Hinzu kam die Mitarbeit in Vorstand, Interner Konferenz und die Pflege der Beziehungen zu anderen Einrichtungen. In diesen Jahren besuchte ich sehr regelmäßig die Michael Bauer Schule anlässlich der Herbsttagung und später anlässlich der Treffen der Heilpädagogischen Schulen, die im Winter regelmäßig an Dienstagnachmittagen an der Michael Bauer Schule stattfanden. 

Die baulich notwendige Erweiterung des Schulhauses in Friedrichsthal/Bildstock brachte mich schließlich in die Situation, nach dem Abschluss meiner Klasse, ein ganzes „Freijahr“ mit dem Erweiterungsbau der Johannes-Schule zu verbringen. 

Nach Ablauf dieses „Freijahres“ hat man mir die Geschäftsführung des Schulvereines angeboten. Da wir in der Lehrerschaft eingespielte Teams und ein sehr konstantes Kollegium hatten, gab es eigentlich auch keine andere Möglichkeit für mich. Es wurde einfach keine Lehrerstelle mehr frei. Somit ergriff ich diese neue Aufgabe in der Geschäftsführung. Es gab genug Möglichkeit, auszuhelfen zu unterrichten und später Kolleg*innen einzuarbeiten. Bald bemerkte ich, dass es einer betriebswirtschaftlichen Ausbildung bedarf, wenn man einen größeren Betrieb mit 45 Mitarbeitern leitet. Unsere Schule hatte damals über 150 Schüler*innen, wir waren mit die größte Förderschule im Saarland (heute ist die Johannes-Schule als „Waldorfförderschule“ offiziell (vermutlich die einzige Schule dieser Art in Deutschland) anerkannt. Sie führt die Schüler*innen als Förderschule bis in die 12. Klasse). 

Es begann die Zeit der Zusatzausbildungen (Betriebswirtschaft und Leitung/Beratung), hinzu kamen Aufgaben in der Landesarbeitsgemeinschaft (Rheinland-Pfalz/Saarland/Luxembourg), beim Bund der Freien Waldorfschulen und in einem Verein, der unserer Schule zugeordnet war und sich um Jugendhilfe und Sozialpsychiatrie auf zwei Bauernhöfen kümmerte. Als Gründungsberater des Bundes begleitete ich einige Schulinitiativen in Rheinland-Pfalz und im Saarland im Aufbau und bei Umstrukturierungen. Darunter sind inzwischen zwei Waldorfschulen: Freie Waldorfschule Kastellaun und die Waldorfschule Bad Kreuznach. Auch das eigentliche Bauen ging weiter: Wir konnten an der Johannes-Schule eine eigene „Ganztagsschule“ bauen mit den letzten Geldern aus IZBB (Investitionsprogramm Zukunft und Betreuung). 

Schließlich kam eine große Veränderung mit dem Umzug nach Stuttgart. Zwei Jahre zuvor hatte ich eine verwaiste 6. Klasse als Klassenlehrer übernommen. Es handelte sich damals um eine der wenigen noch größeren Klassen der Schule. Die Inklusion hatte es mitgebracht, dass die Johannes-Schule zahlenmäßig immer kleiner wurde und sich folglich mehr und mehr auf ESENT-Schüler*innen eingestellt hat. Heute ist die Johannes-Schule eine kleine Schule, die sich vor allem um Schüler bemüht, die nicht mehr beschulbar sind im bekannten Schulsystem.

Inzwischen sind 8 Jahre vergangen. Rückblickend entstand hier an der Michael Bauer Schule während meiner Zeit als Geschäftsführer eine Sporthalle, der Umbau des Festsaals, und der Wiederaufbau des Gewächshauses. Es war mir möglich zu vielen Politikern im Land, zu Stiftungen und großen Kooperationspartnern Kontakte zu knüpfen. Es musste ein Förderverein gegründet werden und gleichzeitig gab es die Aufgabe den Zuschuss 90% für die Schule zu erschließen, was vor einigen Wochen, nach jahrelanger Arbeit, endlich geglückt ist. Weitere Aufgaben lagen in der Umsetzung und Refinanzierung unserer neuen Klassenformen an der Michael Bauer Schule. Seit 2018 bin ich Mitglied im Vorstand der Freien Hochschule (Lehrerseminar) und 2017 wurde ich von der Landesarbeitsgemeinschaft gebeten, bei der Sanierung der Freien Waldorfschule Rottweil mitzuwirken. 

Vorstellen will ich mich heute bei Ihnen als Klassenlehrer der neuen ersten Klasse. Die Unbeständigkeit in der Beständigkeit in meiner Biografie führt sich fort! Nachdem wir die Stelle der Klassen*lehrerin nicht besetzen konnten, hat man innerhalb des Kollegiums nach Persönlichkeiten gesucht, die sich vorstellen könnten, eine neue Herausforderung anzunehmen. So musste ich mich entscheiden. Als Klassenlehrer der Klasse 1K werde ich zunächst die Schüler über den ganzen Vormittag begleiten. Ich freue mich auf die inklusive Arbeit und die Zusammenarbeit mit der 1G. 

Der Abschied aus der Geschäftsführung fällt mir auch schwer. Leicht wird es mir gemacht, da ich die große Last der Verantwortung abgeben kann. Hierzu ist der Zeitpunkt günstig, da langjährige Projekte erfolgreich zum Abschluss gekommen sind. Es war mir immer wichtig, dass die Schulgemeinschaft lebendig bleibt und möglichst viel Transparenz herrschen kann. 

Nun verabschiede ich mich bei Ihnen und danke für die Zusammenarbeit! Meine Tätigkeit als Geschäftsführer endete am 12.7. Somit begann die neue Tätigkeit am 13.7. dieses Jahres. In welchen Zusammenhängen wir uns nun begegnen, bleibt offen. Ich werde mich zunächst ganz der neuen Aufgabe widmen und die letzten Reste meiner Baustellen an meinen Nachfolger übergeben. 

Reinhard Vieser im Juli 2020

Sonntag, 21. Oktober 2018

Transition

Transition - der neutrale Entwicklungsförderer -

 Wer sich längere Zeit mit dem Thema Schule beschäftigt, wird irgendwann mit einer Frage konfrontiert: Warum lernen einzelne Kinder besser als andere? Diese Frage tritt in Wirklichkeit ja sehr viel häufiger in der anderen Richtung auf: Warum gibt es einzelne Schüler, die nicht wie die anderen lernen?

 Oft scheint das sofort nach vollziehbar zu sein, denn es gibt eben Schüler, die weniger intelligent sind. Es gibt Schüler, die sich nicht an Regeln halten, keine Hausaufgaben machen und zu spät kommen. Sie besuchen schlicht die falsche Schule. Ich habe über 20 Jahre an einer kleinen Förderschule als Lehrer und Geschäftsführer gearbeitet. Dabei gab es ein sehr merkwürdiges Phänomen, das ich nie wirklich verstanden habe bis ich heute, wieder in der Funktion eines Geschäftsführers an einer Schule mit 4 Schularten, bemerke, wie sehr diese Frage mit Transition zu tun hat. Zunächst das Phänomen: Es gab eine Anzahl von Kindern an unserer Förderschule, die es schafften, am Ende ihrer Schulzeit die Prüfung zum Abitur zu bestehen. Das ist für sich genommen etwas ungewöhnlich aber nicht weiter bemerkenswert. Gleichzeitig haben aber alle Schüler der Förderschule, deren Eltern ein Lehrerseminar besucht haben, in die Regelschule gewechselt, was Voraussetzung für die Zulassung zum Abitur war. Und das ist das Erstaunliche, denn es waren tatsächlich alle.

 Offensichtlich hat die Weiterbildung der Eltern dazu geführt, dass sich die Kinder sich in einer bestimmten Weise weiterentwickelt haben. Heute erlebe ich die Fragestellung etwas erweitert. Es scheint, wie schon angedeutet, die Begrifflichkeit der Transition hier eine Rolle zu spielen. Transition umschreibt in neutraler Weise pädagogische oder individuelle Veränderungsprozesse. Dabei kann es sich um Krisen handeln, muss es aber nicht. Die Transition ist das Vehikel, das Entwicklung befördert.

 Unsere Schule hier in Stuttgart hat ihre Arbeit aufgenommen in den späten 60er Jahren. Der erste Slogan der Menschen, die mit der Idee der Schulgründung umgingen war: „Wollen wir sie treiben lassen oder Schulen für sie bauen?“ Man wusste damals, dass in jedem Menschen Ressourcen schlummern, die mit Hilfe eines Transitionsprozesses erschlossen werden können. Wer also mit Schülern konfrontiert ist, die nicht gut lernen, die zu spät kommen oder die gar frech sind, hat zwei Möglichkeiten: Er kann sich verweigern und urteilen (benoten), er kann Regeln einfordern oder Sanktionieren.

Oder aber er sucht nach schlummernden Talenten, forscht nach dem guten Grund, der dazu führt, nicht pünktlich zu sein und findet das Trauma, den Trigger um positive Signale senden zu können und die Vertrauensgrundlage für eine freundliche Atmosphäre schaffen. Ich wende mich nicht wirklich gegen die Traumapädagigik. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass ein Einsatz im Gazastreifen lediglich davon ablenkt, Transitionen vor Ort zu erkennen und hier eben jenes zu tun, das den Gazastreifen retten soll. Dies ist insofern durchaus die Aufforderung, Transition als notwendige Entwicklungserscheinung anzuerkennen und vor diesem Hintergrund den Mut zu fassen, pädagogisch nicht nach Regelwerken und Formen zu suchen, sondern sich selbst in die Transition aufzubrechen um Lebens- und Entwicklungsfragen nachhaltig anzugehen.

 Wenn wir als Lehrer, Erzieher oder Sozialpädagogen einsehen, dass jede an uns gerichtete Herausforderung ausschließlich etwas mit uns zu tun hat, beginnen wir uns selbst in Transition zu begeben und erreichen beim Gegenüber eine nachhaltige Entwicklung, die am Ende der Schulzeit, beim Rückblick auf die Schule das Selbstbewusstsein erzeugt, von Persönlichkeiten unterrichtet worden zu sein. Das ist dann Waldorfpädagogik.

 Reinhard Vieser

Samstag, 10. Oktober 2015

Ansprache zur Eröffnung des Michael Bauer Schulcampus

Liebe Schulgemeinschaft, liebe Schülerinnen und Schüler,

begrüßen wir gemeinsam unsere Ehrengäste: 

die Vizepräsidentin des Baden-Württembergischen Landtags, Frau Brigitte Lösch,
den Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, Herrn Fritz Kuhn,
den Bezirksvorsteher von Stuttgart -Vaihingen, Herrn Wolfgang Meinhardt,
sowie alle weiteren Gäste, alle die gekommen sind, unseren heutigen Festakt der Einweihung des Michael-Bauer-Schulcampus zu begleiten. Es freut uns sehr, dass Sie alle hier sind und mit uns feiern.

Für Euch, liebe Schülerinnen und Schüler zu bauen, hat richtig viel Spass gemacht! Aus dem Grund will ich mich gleich zu Beginn dafür bedanken, dass wir das tun durften. Ihr habt mich ja immer wieder gefragt, wie es steht, wann es fertig wird, ob es auch dies oder jenes geben wird. Einige von Euch haben uns immer wieder kräftig unterstützt bei allen möglichen Gelegenheiten. Ihr habt uns auch Eure Eltern geschickt um zu helfen an den vielen Samstagen, um zu spenden und höhere Beitrage zu bezahlen.

Nun möchte ich Euch aber heute sagen, dass das Gebäude selbst aber erst einmal gar nicht wichtig ist. Für sich genommen ist es lediglich ein schöner Bau. Ein paar schön verwirklichte Ideen. Das Gebäude wird erst wichtig, wenn Ihr darin Unterricht habt und es darum geht, Fähigkeiten auszubilden. Fähigkeiten für die Zukunft. Für Eure Zukunft und das damit verbundene Leben und Arbeiten. 

In der heutigen Zeit zu bauen erfordert viele Dinge: Darunter: Glück, Einsatz und Können. Es braucht immer, wenn solche Projekte realisiert werden sollen, ein „Mehr“.

Ein „Mehr“ von Vertrauen Eurer Eltern und Eurer Lehrer in Vorstand und Geschäftsführung, dass diese solch ein Projekt meistern. Ein „Mehr“ an Einsatz unserer Mitarbeiter der Verwaltung von der Reinigung über die Hausmeister bis hin zur Buchhaltung und dem Sekretariat. Da waren überall außerordentlich engagierte Kolleginnen und Kollegen, die ein „Mehr“ an Zeit gegeben haben. Ein Mehr an Mitgestaltung und Mitdenken. Da waren Eltern, Schüler und Lehrer, die ein Mehr an Veranstaltungen durchgeführt haben: Sponsorenlauf, Flohmärkte, Kunstführungen, Kunstpostkarten, Stadtführungen, Abendessen, viele Ideen und viel Geld. Es wurden CD’s aufgenommen und verkauft. Zuletzt haben wir auch einige höhere Beträge von Stiftungen bekommen, wie der SAGST aus Darmstadt. Bisher sind insgesamt 135.000 € zusammengekommen. Vielen Dank, liebe Mitglieder der Fundraisinggruppe. 

Es gab aber auch ein "Mehr" an Ideen der Architekten- und Planungsteams. Ohne diesen überaus großen Einsatz und das ständige Mitdenken bei den vielen Entscheidungen wäre das Gebäude nicht geworden. Ein besonderer Dank gilt dem Architekten Herr von Scholley.

So, wie dieses Gebäude für Euch gebaut wurde, wurde es gleichzeitig auch von Menschen gebaut. Das betrifft nicht nur die genannten Bauplaner sondern auch die vielen Arbeiter: Menschen aus der ganzen Welt haben hier vor Ort mitgewirkt. Es gab ein "Mehr" an Begegnung. Wir haben das auch immer wieder in schwierigen Verhandlungssituationen mitbekommen, wie sehr ein "Mehr" an Geschick hier dann auch geholfen hat, schwierige Fragen zu überwinden. Wir haben viele Sprachen gehört, viele wunderbare Handwerker erlebt. Diese haben ganz sicherlich ein mehr an Fähigkeiten hier angewendet. Es war fast immer eine gute Stimmung vor Ort und wir haben tägliche Fortschritte erleben dürfen. Ihnen allen und Euch allen sei hier für die große Zusatzleistung, das “Mehr”, herzlich gedankt.

Es gab aber auch ein Mehr bei den Banken und der Verwaltung der Stadt Stuttgart! Wir haben den richtigen und guten Partner für das "Weniger" an Zinsen gefunden mit den Vereinigten Volksbanken, Sindelfingen. Dabei waren zwar die Zinsen niedrig aber der Aufwand erst einmal „Mehr“. Aber diese unkomplizierte Zusammenarbeit mit einer Bank in den heutigen Tagen ist erwähnenswert. Ein Mehr an Service, Vertrauen und Kommunikation. 

Und das gilt in gleicher Weise für die Stadt. Sie hatte viel Geduld mit uns. Das freundliche Entgegenkommen und letztlich auch die freundliche Bereitschaft unseren Hornbereich auch finanziell zu unterstützen ist besonders erwähnenswert. Ein "Mehr" an Mitdenken und Zuarbeit. Wir haben hier eine ganz besondere Situation mit der Stadt Stuttgart und deren Möglichkeiten. Viele Geschäftsführerkollegen beneiden uns Geschäftsführer aus Stuttgart hierfür. Danke an Herrn Jürgen Dangelmaier mit seinem "Mehr" an sehr korrekter Zusammenarbeit vom Amt für Liegenschaften der Stadt Stuttgart, Herrn Eduard Schuckmann vom Baurechtsamt mit einem Mehr an Freude an Architektur und Frau Bürgermeisterin Eisenmann mit einem "Mehr" an Zuhören. 

Natürlich danke ich auch den Nachbarn hier auf dem Österfeld, die jeden einzelnen LKW ertragen mussten: Ein "Mehr" an Geduld. 

Wir wünschen uns, liebe Schülerinnen und Schüler, dass Ihr mit diesen vielen unterschiedlichen "Mehr's", also diesen Fähigkeiten nach der Schule in der Welt steht: 


Vertraut Ihr auf Eure eigenen Fähigkeiten, könnt Ihr anderen Menschen auch vertrauen.
Wenn Ihr Euer leben selbst gestalten könnt, habt Ihr Zeit für Wesentliches.
Menschen, die sich selbst gut ausdrücken können, haben Verständnis für andere.


Ich bedanke mich zuletzt für das "Mehr", diesem wunderbaren Team, der Baugruppe, angehört zu haben!


… und dafür, dass Sie, Frau Landtagsvizepräsidentin, hier zu Besuch sind bei uns auf dem Österfeld. Ich möchte Ihnen nun das Wort übergeben. Anschließend wird unser Oberbürgermeister Fritz Kuhn zu uns sprechen. 

Freitag, 9.10.2015 

Freitag, 15. August 2014

House of One

House of one. Ein Haus für drei Religionen entsteht in Berlin. Was für eine Idee. Man hat unter dem Petriplatz in Berlin alte Kirchenfundamente gefunden. Das brachte die Stadt Berlin auf die Idee, es könnte dort eine Kirche entstehen. Die evangelische Kirchengemeinde winkte jedoch ab. Für eine weitere Kirche gibt es keinen Bedarf.

Das brachte die evangelische Kirchengemeinde auf eine Idee: Dieser Ort könnte allen Religionen offen stehen. Und so kam es zu einem Zusammenschluss der Kirchengemeinde, der jüdischen Gemeinde und der Muslimischen Gemeinde in Berlin. Am Ende steht der Bau eines Lehr- und Bethauses für drei Religionen: das house of one.

Im Juni beginnt das Fundraising und gesucht werden nicht 5 x 7 Millionen Euro sondern 3.500.000 x 10 €! Was für eine grandiose Idee! Das house of one wird von uns bezahlt. Jeder kann auf der Homepage 10 € einzahlen und gleichzeitig einen guten Wunsch mitgeben, der immer mit dem house of one verbunden sein wird.

Eilat. Es sind gut 40 Grad Celcius. Anfang Mai 2014. Wir sind verabredet. Alle wollen sich dieses Jahr in Eilat treffen: Meine drei Kinder und einige ihrer Freunde. Wir denken uns, dass es vielleicht eine schöne Idee ist, das Treffen am Roten Meer in einem "Cafe Cafe" zu beginnen. Wir hatten bemerkt, dass die Sitzgarnituren in den Restaurants und Cafes in Eilat recht schmutzig sind. Aber keiner kann in dieser Stadt dem Schmutz entfliehen. Es ist alles schmutzig und laut. In den Läden kann man 100 Sorten Bier finden.

Eilat ist eine einzige Partystadt. Alle Menschen sind tätowiert, es gibt eine schier unübersehbare Zahl junger Menschen. Und es ist - es kann nicht oft genug bemerkt werden - schmutzig. Dazu ist es teuer, überfüllt und selbst die Fische im Meer haben sich versteckt. Der Kampf über einen der Stege ins Wasser zu kommen, ist unerträglich. Schön, zusammen zu sein. Aber in Eilat? Das Hostel war eine kleine Entschädigung: Alkoholverbot und richtig strenge Regeln. Der Herbergsvater, ein Israeli, der wohl in den letzten 20 Jahren nichts anderes gemacht hat, als zu malen und zu gestalten und der aus der Herberge ein Gesamtkunstwerk gemacht hat, ist sehr entschieden. In seiner Herberge gibt es keinen Alkohol.

Draußen: Ja. Aber hier drinnen eben nicht. Er erzählt, dass es früher sehr laut war, die Gäste hatten Konflikte untereinander und er hatte immer sehr viel aufzuräumen und wegzuputzen. Dann hatte er die Idee: Alkoholverbot! Und schon waren die Gäste ruhig. Es kam zu Gesprächen und vor allem: Immer mehr Menschen suchten gezielt dieses Hostel. Tatsächlich: Es war sauber.

Tel Aviv. Das Leben pulsiert. Man könnte meinen, man sei in Berlin-Friedrichshain. Etwas wärmer, vielleicht weniger Restaurants. Aber dafür viele Menschen. Die Stadt lebt, bietet Kultur, Begegnung, Architektur und Kunst. Irgendwie vertraut und einladend. Viele Israeli tragen eine Kippa. Man ist freundlich. Es gibt wunderbare Cafés, feinstes Gebäck. Eine Stadt, in der man leben kann.

Jerusalem. Vielfältig und extrem. Es gibt viele schwarz gekleidete, orthodoxe Juden mit vielen Kindern, Frauen mit Perücken und Männer mit Pelzhüten. Gut, Jerusalem ist immer etwas kühler, liegt es doch in den "Bergen". Aber bei 2o Grad eine Pelzmütze? Die orthodoxen Juden blicken durch die Ungläubigen hindurch. Für sie sind wir keine Menschen. Wir sind gar nicht existent. Es sei denn, eine Frau stellt sich in die falsche Reihe an der Kasse.

Ein weiteres Extrem: die Christen. Im entsprechenden Viertel in Jerusamel ist es sauber. Aber es ist auch teuer und man wird ohne Unterbrechung angesprochen. Kaufen, kaufen, kaufen. Die Reisegruppen werden durch die engen Gassen geschleust. Es ist unangenehm. Unangenehm in der Grabeskirche und unangenehm in den Läden. Wäre da nicht das Lutherian Guesthouse, dieses Viertel wäre irgendwie verloren. Das Gästehaus aber bietet eine einzigartige Sicht auf die Dächer, das Leben auf der Stadt und hinüber zum Ölberg.

Ostjerusalem. Wir sind eingeladen. Es ist wichtig, man bietet und Kaffee, Kuchen, Wasser. Die Wohnung ist klein und sehr liebevoll eingerichtet. Schön, wie die Menschen hier leben. Draußen ist es schmutzig. Die Straßen sind voll Menschen und als uns Abenteuer am nächsten Tag Richtung Süden führen, sehen wir auch wie arm die Menschen sind. Sie haben keine Rechte. Wollen sie reisen, müssen sie zunächst nach Jordanien reisen. Dort bekommen sie jordanische Papiere. Aber sie sind sehr herzlich. Vielleicht, weil wir aus Deutschland kommen. Vielleicht aber auch, weil sie es so gelernt haben und weil sie höflich sind.

Als ich zurück war, hatte ich einen Gedanken: Ich will nicht extrem sein. Das Erlebte hat einen intensiven Eindruck hinterlassen.

Die wirkliche Erfahrung in Israel war, dass dort, wo sich Menschen wirklich begegnen, spielt die Religion keine aktive Rolle. Diese Begegnung über Kunst, Kultur und Wissenschaft ist überall möglich. Sich nur den Emotionen zu überlassen und in streng geformten einseitigen Ritualen zu leben, verhindert Begegnung. Gleichzeitig ist es fürchterlich schwer den eigenen orthodoxen Juden, den Christen und den Muslim in sich abzugeben.
Vielleicht ist das house of one eine Gelegenheit hierzu. Ich wünsche mir, dass es mir ein kleines Stück gelingen mag.
Das alles habe ich im Mai geschrieben. Heute ist Krieg. Es sind nicht die Menschen, die aufeinander schießen. Es sind Machtinteressen. Freunde haben sich mit Bekannten getroffen. Menschen aus Deutschland, die aus palstinensischen Gebieten stammen und Menschen die in amerika wohnen und aus israelischen Gebieten stammen. Reiche Geschäftsleute, die erzählen, dass sie wiederum reiche Freunde haben, die gerne in Jericho, Bethlehem oder anderen Gebieten investieren würden. Infrastuktur aufbauen und Schulen und Universitäten unterstützen.
Aber Unsicherheit hindert sie daran. So lange es nicht sicher ist, wie lange es ruhig bleibt, wird keiner investieren. Das war alles im Mai 2014. Heute hat sich das bestätigt: Es gibt keine Sicherheit. Das ist im Interesse der jüdischen Siedler und der extremen Seite aus den palstinensischen Gebieten.

Die Menschen leben weiter zusammen. Gegen die Machtinteressen der Großen können wir wohl wenig ausrichten. Aber wir können weiter Fäden knüpfen und uns nicht beirren lassen: Wir sind selbst verantwortlich für unser Tun. Jenseits der Frage: Wer ist nun "gut"? Können wir auf beiden Seiten Menschen finden, die ganz aus sich heraus ein freies Leben anstreben. Das sind vielleicht die Palästinenser, die in der Sesselbahn in Jericho "Candy-Crush" auf dem Smartphone spielen. Oder das amerikanische Ehepaar, das die alte Heimat besucht und sich freut, dass sich diese entwickelt, es wieder mehr Torismus gibt.

Und am Ende stelle ich mir die Frage, wie das mit den Raketen und den israelischen Angriffen im Gazastreifen ist. Ich glaube, das ist nicht zu verstehen. Es ist vielleicht ganz große Machtpolitik die ihre Bahn findet, in einer Zeit, in der alle auf Russland und die Ukraine schauen, an diesem Lebensort, der sicher zu den extremsten auf der Welt gehört. Wir sollten alle zusammenlegen und uns Ferienwohnungen in Gaza kaufen.
Wir sollten Schulen unterstützen und hoffen, dass Bildung hilft den Kindern eine Zukunftsperspektive zu öffnen. Wir sollten wissen, dass die Menschen, die dort leben oder in der israelischen Armee dienen genau so wenig verstehen wie wir. Sie machen aber schreckliche Erfahrungen. Sie müssen fürchterliche Dinge erleben und keiner weiß genau wozu.

Giens. Französische Militärhuschrauber fliegen fast genau so regelmäßig über dem französischen Strand wie in Herzeliya-Beach. Ganz in der Nähe ist einer der großen französischen Seehäfen: die "Ukraine Frankreichs". Keiner kann sich vorstellen, dass Frankreich diese Häfen oder die zivile Luftfahrttechnik hier aufgeben könnte. Wie kommt man auf die Idee, Russland könnte das in der Ukraine leisten?
Ich glaube, das wirklich revolutionäre am "house of one" ist, dass es eben keine Kultstätte einer Religion sein soll, sondern ein Lehrhaus. Es entsteht, in dem viele einzelne Menschen einen kleinen Beitrag leisten. Die Bibliothek, die entstehen soll, wäre für bildungsreisende Klassen schon heute über Jahre ausgebucht - wenn es sie gäbe.

Donnerstag, 27. Dezember 2012

Chuzpe und Ambiguitätstoleranz


Chuzpe ist ein jiddischer Begriff. Er bedeutet so viel wie: Frechheit. Frech sein um etwas zu erreichen, für das auf anderem Weg viel mehr Aufwand hätte betrieben werden müssen. Mit etwas List, Witz und vielleicht sogar Charme wird der Weg sozusagen abgekürzt. Vielleicht steht Chuzpe mehr für die allgemeine Haltung  der westlichen Welt als für das Judentum. Ich würde ihn gerne hier mit der westlichen Welt in Verbindung bringen.

Ambiguitätstoleranz wird interessanter Weise mit dem Islam in Verbindung gebracht. Ich will das erweitern und sie mit der östlichen Lebenshaltung verbinden.

Es geht hier um den Willen. Einmal – im Fall von Chuzpe – ist er schlagfertig, direkt und unmittelbar. Er trifft, verändert, erlöst. Er ist erfolgreich und stark. Allerdings kann er auch verheerend sein. Seine Kehrseite blockiert, entmutigt und entmachtet. Der Superkluge setzt sich durch. Er bestimmt. Im anderen Fall, wenn es um die Ambiguitätstoleranz geht, ist der Wille zurückgehalten. Er beschreibt, nimmt wahr, er fließt sanft, zieht sich eher zurück und bleibt aufmerksam. Er steigert die Aufmerksamkeit förmlich auf seinem Rückzug.

In einer Zeit, in der wir alle Macht bekommen (es gibt ja keine Indianer mehr sondern nur noch Häuptlinge), müssen wir uns wohl oder übel mit dieser Frage auseinandersetzen. Schließlich trifft es uns alle. Stellen wir uns vor, wir wollen samstags ein Päckchen bei der Post aufgeben. Wir haben Pech, wohnen in der Stadt und die Schlange steht bis auf die Straße. Innen wird an drei (von acht) Schaltern gearbeitet. Irgendwo laufen zwei Angestellte herum, die an langen Listen arbeiten). In relativ langen Abständen kommen unzufriedene (jedenfalls scheinen sie angestrengt) Postkunden mit Zetteln oder Paketen in der Hand aus der Filiale.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Wir stellen uns brav in die Reihe, üben uns in Geduld, hören vielleicht einen Podcast, sprechen mit der Begleitung, wir beobachten, nehmen die vielen Angebote wahr, lassen uns anregen und so weiter. Oder wir kehren um, geben unseren hart erkämpften Parkplatz auf und fahren zur nächsten Filiale, zu einem Servicepartner oder zu einer Packstation. Möglicherweise haben wir Glück und es geht ganz schnell (und ist vielleicht sogar billiger).

Mein letztes Jahr war immer wieder geprägt durch diese Möglichkeiten. Im privaten Bereich und im Arbeitsbereich. Wann muss ich mich zurückhalten, aushalten, beobachten, lernen, und sogar unterstützen? Und wann muss ich ganz frech eine Entscheidung treffen um Situationen zu lösen?

Vor einigen Monaten haben wir auf einer privaten Israelreise die Golanhöhen besucht. Ein schrecklicher Ort. Man sieht von oben weit in die syrische Ebene. Auf dem Bergrücken hinten lugen hunderte lange Antennen hervor. Man weiß, man spürt, man wird beobachtet. Das Gefühl hat man in Israel öfter. „Nur zu deiner Sicherheit“. Im letzten Sommer wäre das nicht mehr möglich gewesen. Aus Syrien wurde geschossen. Natürlich lassen sich die Israeli das nicht bieten. Man kennt hier die Ambiguität nicht. Toleranz ja, aber keine Ambiguität. Das Weitere ist bekannt, es gab eine weitere Eskalation im Konflikt, die glücklicherweise wieder aufhörte.

Sicher, die Frage ist, wo war nun die Ambiguität des Islam? Hierzu gibt es mehrere Antworten. Aber eine möchte ich nennen: wenn wir lange aushalten müssen, dann kommt es irgendwann vielleicht zu einem Ausbruch. Die Seele, das Gefühl schlägt durch. Es lässt sich nicht mehr kontrollieren. Dann zählt nur der Wille. Es herrscht Zerstörung. So etwas ist geschehen. Nicht nur in Syrien und in Gaza. Auch in Ägypten und anderen islamischen Staaten.

Wer lange Konferenzen erlebt, ist ab und an froh, wenn einer ganz frech eine Lösung ins Plenum ruft und so die gemüthaften Äußerungen der Kollegen mit einem Hieb beendet, die Stimmung zerteilt und alles auf neue Beine stellt. Dann hat Chuzpe „gesiegt“. Zum rechten Zeitpunkt eine aufmerksame Bemerkung und die ganze Gruppe profitiert. Würde aber ständig dazwischen gerufen, würde es nur noch nerven und keiner käme zu Wort.

Andererseits kann es auch sehr lehrreich sein, die reflektierende Gruppe zu beobachten, zu imaginieren, wie diese wachen Geister vor 20 oder 30 Jahren ausgesehen haben, was ihr Leben bestimmt hatte und welches die Antriebe sind. Man erinnert sich an die 5 Säulen der Identität und lernt unwahrscheinlich viel vom Leben. Vielleicht schließt man sich nicht wirklich dem gefundenen Beschluss an, man erwägt noch einmal eine gegensätzliche Position zu vertreten. Aber es kommt gar nicht mehr darauf an. Die Zufriedenheit kommt nicht aus der Bestätigung sondern aus der Beobachtung.

Irgendwie kann ich mich nicht recht entscheiden. Will ich nun lieber Chuzpe oder Ambiguität? Beides ist vielleicht weniger Widerspruch als es mir vorkommt. Und doch haben beide Haltungen ihren Charme.

Wie schön ist es, andere zu irritieren, ihnen aus den Tiefen der Verstandes- und Gemütsseele zu helfen? Einfach durch wenige Worte, eine scharfe Bemerkung? Und wie lehrreich ist es zu beobachten, zu warten und vielleicht begleitet von den Nebenübungen von den anderen zu lernen?

Im letzten Jahr half es mir meine Welt besser zu verstehen. Ich konnte direkten Angriffen häufiger mit einem netten „Hoppla“ oder „WOW“ begegnen und langwierige, schwierige Prozesse mit Interesse und hoher Konzentration verfolgen ohne unruhig oder gar wütend zu werden.

Reinhard Vieser, Weihnachten 2012

Lieteratur: 5 Säulen der Identität: Hilarian Petzold, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam: Thomas Bauer. Versuch's doch mal mit Chuzpe: Martin Morlock

Donnerstag, 5. Januar 2012

2011

Jahr des Widerstands. Innere und äußere Widerstände. Momente der Lösung und der Erlösung. Und am Ende wenig Zufriedenheit, aber die Gewissheit: Nicht jedes Projekt muss abgeschlossen werden. Genau genommen weiß ich auch nicht, was geworden wäre, wenn sie hätten abgeschlossen werden können. Vielleicht hätte ich dann nie erfahren, dass es gar nicht darauf ankommt (das ist schmerzhaft und Lernen hat irgendwie immer etwas mit Schmerz zu tun). Wichtig ist und bleibt der Prozess.


Als ich in den 80er Jahren meine Ausbildung machte, gab es keine Frage: Der Erzieher oder Lehrer gibt vor und die Betreuten oder Schüler machen nach. Was zählte, war die Methode. Diese wurde einfach angewendet und wie durch Zauberhand war sie einfach gut. Das, was uns Rudolf Steiner angegeben hat, traf sicher ein. Dazu kam, dass die Rolle des Lehrers geklärt war. Sie passte ins Bild. Alle hatten Achtung und viele Furcht. Jeder wusste, dass Lehrer alles wissen (müssen) und jeder schwankte zwischen Furcht und Anerkennung.

Das traf auf alle zu. Schüler, Lehrer und Eltern. So arbeitete ich 8 Jahre. Einige Jahre später hat sich dieses Bild gewandelt. Der Lehrer muss sich entscheiden: Wenn er so arbeitet, wie es früher üblich war, verliert er Schüler. arbeitet er angepasst an die neue Zeit, muss er sich nicht nur selbst hinterfragen, sondern er muss sich ein stück ablösen. Das Geschehen wird zum Prozess. Jeder kann sich entscheiden, ob er sich einlässt oder nicht.


So ist es mit Stuttgart 21. Und Herrn Wulff. Vielleicht auch dem Grafen zu Guttenberg? In Stuttgart wird es einen neuen Bahnhof geben. Jedenfalls wahrscheinlich. Und wahrscheinlich werden die Stuttgarter auch die neu entstehende Fläche genießen. Aber es wird ein solches Projekt nie mehr geben. Die Menschen, welche hierfür verantwortlich sind, haben Wesentliches gelernt: Macht alleine ist ein schlechtes Mittel. Die Bevölkerung denkt mit und lässt sich nicht mehr verwalten. Die da Oben haben sich auf nachvollziehbare Prozesse einzulassen. Und eigentlich gibt es sie gar nicht mehr (die da Oben)...

Was müssen das für Zeiten gewesen sein, als sich Macht noch richtig auszahlte, jeder über Beziehungen Titel und Projekte durchsetzen konnte und die Mächtigen dabei richtig gut protegiert wurden? Heute steigt die Regierung aus frisch geschriebenen Atomverträgen aus. Einfach so, weil man durch den Atomunfall in Japan gelernt hat, dass diese Technologie nicht beherrschbar ist. Ohne Weiteres. Stuttgart 21 - Gegner greifen nicht zu Gewalt - auch wenn sie geradezu zur Gewalt verführt werden. Sie argumentieren und lassen sich auf demokratische Regeln ein. Deshalb sind sie die Gewinner: sie haben ein System entblößt. Das System der beiden Hände, welches Wulff die Autorität gekostet hat und sein Amt wenigstens für die Zeit in der weiter leiden wird entwertet.

Außer den lustigen Minuten mit den Schülern und den Kollegen der 7a, bzw. 8a gab es auch für mich 2011 wirklich wenig zu lachen. Ausnahme: der Nachmittag mit Gabriela (GFK-Training), an dem ich auf so frische Art an Wuppertal (Sozialakademie) erinnert wurde und die vielen fröhlichen Fahrten nach Windesheim. Es kommt lediglich auf den Prozess an. Wenn ich dieses Jahr nicht alle überzeugen konnte, so bleibt mir die Gewissheit, dass ich alles eingesetzt habe und ich immer Bereitschaft gezeigt habe, mit neuen Ideen zur Entwicklung beizutragen.

Gelungen ist uns der Neubau der Ganztagsschule und die Umsetzung der jährlichen Neuregelung der Ganztagsschule in der Refinanzierung. Wir können sogar einer riesigen Spende der RAG (Bergorchester und Saarknappenchor) entgegensehen. Dennoch bleiben finanzielle Lücken. Diese zu schließen wird ohne eine wirkliche Erneuerung der Prozesse nicht gelingen. Wer zukünftig handlungsfähig bleiben will, wird sich öffnen müssen.

Das neue Jahr wird weiter Prozesse produzieren. Vermutlich wird es weiter Konflikte geben und wenn es uns gelingt diese Konflikte als Anregungen aufzufassen, werden wir weiter lernen. Nicht das, was uns Gemüt und Vorstellung vorgeben, die beide auf Tradition und Macht bauen, zählt, sondern der Prozess mit seinen Widersprüchen. Dies fordert ein Neues Bewusstsein und nicht nur das Vertrauen auf Prozesse, sondern auch den Mut zur Gestaltung. Damit geht die Verantwortung auf uns über. Keiner kennt den Weg und doch wird es ihn geben (und wenn es nicht klappt, gelangen wir wieder in die bekannten Verstandesseelenprozesse).

Instead of habitual, automatic reactions, our words become conscious responses based firmly on an awareness of what we are perceiving, feeling, and wanting. We are led to express ourselves with honesty and clarity, while simultaneously paying others a respectful and empathic attention. In any exchange, we come to hear our own deeper needs and those of others. NVC trains us to observe carefully, and to be able to specify behaviors and conditions that are affecting us. We learn to identify and clearly articulate what we are concretely wanting in any given situation. M. Rosenberg

Es ist also nötig sich auszusprechen und es auszuhalten, dass andere Menschen andere Auffassungen vertreten. Ich nenne das Konflikt. Wichtig ist mir nicht der Status des Konfliktes sondern die Art und Weise damit umzugehen. Gerade in Einrichtungen, die Menschen betreuen, welche selbst nicht mit ihren eigenen Konflikten umgehen können, ist es wichtig, sich der Auswirkungen auf die eigene Situation bewusst zu werden. Ich glaube fest daran, dass das ausreicht. Die Lösung ist schließlich ganz wenig wichtig. So lösen sich die Fragen auf ohne Gewinner und Sieger. Alle gewinnen. Das meinte Rudolf Steiner, als er die Schule in Stuttgart begründete: In einer wirklichen Lehrer-Republik werden wir nicht hinter uns haben Ruhekissen, Verordnungen, die vom Rektorat kommen, sondern wir müssen hineintragen (in uns tragen) dasjenige, was uns die Möglichkeit gibt, was jedem von uns die volle Verantwortung gibt für das, was wir zu tun haben. Jeder muss selbst voll verantwortlich sein. (R. Steiner)



Meine lieben Freunde, wir kommen mit unserer Aufgabe nur 
zurecht, wenn wir sie nicht bloß betrachten als eine intellektuell-gemütliche, sondern als eine im höchsten Sinne moralisch-geistige...(R. Steiner)


Reinhard Vieser

Sonntag, 24. Juli 2011

Nachruf Marina Lippke

Wer Marina Lippke begegnete, bekam einen dauerhaften Eindruck und er wurde wahrscheinlich auch nicht mehr von ihr vergessen. Den größten Eindruck machten ihre strahlend blauen Augen und ihr offenes Wesen. Marina Lippke konnte gleichermaßen Zuhören und Reden. Sie bestand nie auf das letzte Wort und doch hatte sie es meist. Abgerungen sagen die einen, ausgeliehen für einen kleinen Moment, bis deutlich wird, dass sie Recht hat, die anderen.

Marina konnte überzeugen. Sie war ausgesprochen spontan und redselig. Die letzten Jahre verbrachte sie in ihrer Wohnung in Klarenthal, am liebsten auf dem Balkon, umgeben von. ihren geliebten Pflanzen. Dort konnte sie sitzen und eine Geschichte über jeden Baum im Garten ihres Vermieters erzählen.

Sie war umgeben von hunderten von Karten und Bildern ihrer ehemaligen Schüler, Kollegen, ihrer Familie und ihren Freunden, deren Biografien sie kannte. Jederzeit konnte sie sich interessieren und konkret nachfragen. Scheinbar hatte sie alle Lebensbilder in ihrem Gedächtnis treu verwahrt. Eigenständigkeit und Selbstbestimmung konnte sie sich fast bis zuletzt bewahren. Als sie diese aufgeben musste, zerbrach ihr Wille. Liebevoll umgeben von der Familie wollte sie wohl einfach nicht mehr weiter.

Die Liste der Ehrungen und Gründungen, Gründungshilfen und Unterstützungen ist lang. Marina verlegte große Feiern gerne auf Anfang September. An irgend einem Tag Anfang September wurde sie 1917 in St. Petersburg geboren.

Im Jahr 1990 wurde ihr vom Kultusminister Breitenbach das Bundesverdienstkreuz überreicht, einige Jahre später das Lettische Verdienstkreuz. Sie gründete 1982 im 65. Lebensjahr die Waldorfschule Saarbrücken und 1987 die Johannes-Schule. 1995 schied sie endgültig aus dem Lehrerberuf aus um in Chemnitz den Förderbereich zu unterstützen und die Waldorfbewegung in Lettland und Litauen voranzutreiben. Mit 84 Jahren fuhr sie noch im eigenen PKW (um Geld zu sparen) nach Lettland. Sie konnte beigeistert von den Gesprächen mit den Fernfahrern auf der Fähre nach Schweden erzählen.

Verbunden war sie ein Leben lang der englischen Sprache. Gelebt hat sie ein hartes Leben, wer bei Marina übernachtete (und das waren über viele Jahre alle neu einzustellenden Kollegen), musste Borretsch zum Frühstück essen (das gibt richtig viel Energie) und sein Bett jeden Tag ordentlich machen (daran kann man sehen, ob einer auch ordentlich ist). Dafür hat sie keinen mehr aus ihrem Gedächtnis entlassen.

Marina Lippke war besonders wach, wenn es um etwas Neues ging. Sie hat sich ein Leben lang die Kindheitskräfte bewahrt. Man konnte noch bis vor kurzem alberne Kinoabende mit ihr verbringen, sie begann mit über 80 noch das Modeln und erinnerte immer wieder an bevorstehende Aufgaben.

Verbunden war sie der Anthroposophie. Bis in die späten 80er Jahre hatte sie ihren eigenen Lesekreis, der wie alles bei Marina, für jeden offen war. Konflikte und Streit begegnete sie durch Bewusstseinsbildung. Oft etwas hilflos aber immer überzeugt und überzeugend.

Auch die Sonntagshandlung und der Freie Christliche Religionsunterricht waren Marina ein Anliegen. Marina besuchte gerne die Menschenweihehandlung.

Der größte Dank gilt allerdings ihrer großen Seele, die unterschiedlichste Menschen verbinden konnte. Marina war furchtlos in der Begegnung mit Menschen. Auch was Autoritäten anging. Lange nachdem sie nicht mehr an der Schule war konnten wir manche Probleme mit der Methode Marina Lippke lösen: Einfach offen und furchtlos aussprechen, was Sache ist. Beschreibend, nichtsbeschönigend, so wie sie es in ihren Zeugnissen, in ihrer klaren Handschrift in der letzten Nacht vor der Zeugniskonferenz, jahrelang geübt hatte. Diese nächtliche Arbeit begründete sie damit, dass vor den Ferien, wenn es warm wird, die Schüler ja noch wachsen. Und dabei entwickeln sie sich. Es wäre schade, wenn diese letzte Entwicklung nicht im Zeugnis erscheinen würde.

Marina war 93 Jahre als sie ging. Wie selbstverständlich ging sie zum Schuljahresende. Natürlich hat sie uns Aufgaben hinterlassen: Bau eines Werkstattgebäudes. Das sei für unsere Schüler besonders wichtig. Und weil Marina wie immer Recht hat, glaube ich daran, dass ein solches Gebäude entsteht.