Wer Marina Lippke begegnete, bekam einen dauerhaften Eindruck und er wurde wahrscheinlich auch nicht mehr von ihr vergessen. Den größten Eindruck machten ihre strahlend blauen Augen und ihr offenes Wesen. Marina Lippke konnte gleichermaßen Zuhören und Reden. Sie bestand nie auf das letzte Wort und doch hatte sie es meist. Abgerungen sagen die einen, ausgeliehen für einen kleinen Moment, bis deutlich wird, dass sie Recht hat, die anderen.
Marina konnte überzeugen. Sie war ausgesprochen spontan und redselig. Die letzten Jahre verbrachte sie in ihrer Wohnung in Klarenthal, am liebsten auf dem Balkon, umgeben von. ihren geliebten Pflanzen. Dort konnte sie sitzen und eine Geschichte über jeden Baum im Garten ihres Vermieters erzählen.
Sie war umgeben von hunderten von Karten und Bildern ihrer ehemaligen Schüler, Kollegen, ihrer Familie und ihren Freunden, deren Biografien sie kannte. Jederzeit konnte sie sich interessieren und konkret nachfragen. Scheinbar hatte sie alle Lebensbilder in ihrem Gedächtnis treu verwahrt. Eigenständigkeit und Selbstbestimmung konnte sie sich fast bis zuletzt bewahren. Als sie diese aufgeben musste, zerbrach ihr Wille. Liebevoll umgeben von der Familie wollte sie wohl einfach nicht mehr weiter.
Die Liste der Ehrungen und Gründungen, Gründungshilfen und Unterstützungen ist lang. Marina verlegte große Feiern gerne auf Anfang September. An irgend einem Tag Anfang September wurde sie 1917 in St. Petersburg geboren.
Im Jahr 1990 wurde ihr vom Kultusminister Breitenbach das Bundesverdienstkreuz überreicht, einige Jahre später das Lettische Verdienstkreuz. Sie gründete 1982 im 65. Lebensjahr die Waldorfschule Saarbrücken und 1987 die Johannes-Schule. 1995 schied sie endgültig aus dem Lehrerberuf aus um in Chemnitz den Förderbereich zu unterstützen und die Waldorfbewegung in Lettland und Litauen voranzutreiben. Mit 84 Jahren fuhr sie noch im eigenen PKW (um Geld zu sparen) nach Lettland. Sie konnte beigeistert von den Gesprächen mit den Fernfahrern auf der Fähre nach Schweden erzählen.
Verbunden war sie ein Leben lang der englischen Sprache. Gelebt hat sie ein hartes Leben, wer bei Marina übernachtete (und das waren über viele Jahre alle neu einzustellenden Kollegen), musste Borretsch zum Frühstück essen (das gibt richtig viel Energie) und sein Bett jeden Tag ordentlich machen (daran kann man sehen, ob einer auch ordentlich ist). Dafür hat sie keinen mehr aus ihrem Gedächtnis entlassen.
Marina Lippke war besonders wach, wenn es um etwas Neues ging. Sie hat sich ein Leben lang die Kindheitskräfte bewahrt. Man konnte noch bis vor kurzem alberne Kinoabende mit ihr verbringen, sie begann mit über 80 noch das Modeln und erinnerte immer wieder an bevorstehende Aufgaben.
Verbunden war sie der Anthroposophie. Bis in die späten 80er Jahre hatte sie ihren eigenen Lesekreis, der wie alles bei Marina, für jeden offen war. Konflikte und Streit begegnete sie durch Bewusstseinsbildung. Oft etwas hilflos aber immer überzeugt und überzeugend.
Auch die Sonntagshandlung und der Freie Christliche Religionsunterricht waren Marina ein Anliegen. Marina besuchte gerne die Menschenweihehandlung.
Der größte Dank gilt allerdings ihrer großen Seele, die unterschiedlichste Menschen verbinden konnte. Marina war furchtlos in der Begegnung mit Menschen. Auch was Autoritäten anging. Lange nachdem sie nicht mehr an der Schule war konnten wir manche Probleme mit der Methode Marina Lippke lösen: Einfach offen und furchtlos aussprechen, was Sache ist. Beschreibend, nichtsbeschönigend, so wie sie es in ihren Zeugnissen, in ihrer klaren Handschrift in der letzten Nacht vor der Zeugniskonferenz, jahrelang geübt hatte. Diese nächtliche Arbeit begründete sie damit, dass vor den Ferien, wenn es warm wird, die Schüler ja noch wachsen. Und dabei entwickeln sie sich. Es wäre schade, wenn diese letzte Entwicklung nicht im Zeugnis erscheinen würde.
Marina war 93 Jahre als sie ging. Wie selbstverständlich ging sie zum Schuljahresende. Natürlich hat sie uns Aufgaben hinterlassen: Bau eines Werkstattgebäudes. Das sei für unsere Schüler besonders wichtig. Und weil Marina wie immer Recht hat, glaube ich daran, dass ein solches Gebäude entsteht.
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