Sonntag, 24. Juli 2011

Nachruf Marina Lippke

Wer Marina Lippke begegnete, bekam einen dauerhaften Eindruck und er wurde wahrscheinlich auch nicht mehr von ihr vergessen. Den größten Eindruck machten ihre strahlend blauen Augen und ihr offenes Wesen. Marina Lippke konnte gleichermaßen Zuhören und Reden. Sie bestand nie auf das letzte Wort und doch hatte sie es meist. Abgerungen sagen die einen, ausgeliehen für einen kleinen Moment, bis deutlich wird, dass sie Recht hat, die anderen.

Marina konnte überzeugen. Sie war ausgesprochen spontan und redselig. Die letzten Jahre verbrachte sie in ihrer Wohnung in Klarenthal, am liebsten auf dem Balkon, umgeben von. ihren geliebten Pflanzen. Dort konnte sie sitzen und eine Geschichte über jeden Baum im Garten ihres Vermieters erzählen.

Sie war umgeben von hunderten von Karten und Bildern ihrer ehemaligen Schüler, Kollegen, ihrer Familie und ihren Freunden, deren Biografien sie kannte. Jederzeit konnte sie sich interessieren und konkret nachfragen. Scheinbar hatte sie alle Lebensbilder in ihrem Gedächtnis treu verwahrt. Eigenständigkeit und Selbstbestimmung konnte sie sich fast bis zuletzt bewahren. Als sie diese aufgeben musste, zerbrach ihr Wille. Liebevoll umgeben von der Familie wollte sie wohl einfach nicht mehr weiter.

Die Liste der Ehrungen und Gründungen, Gründungshilfen und Unterstützungen ist lang. Marina verlegte große Feiern gerne auf Anfang September. An irgend einem Tag Anfang September wurde sie 1917 in St. Petersburg geboren.

Im Jahr 1990 wurde ihr vom Kultusminister Breitenbach das Bundesverdienstkreuz überreicht, einige Jahre später das Lettische Verdienstkreuz. Sie gründete 1982 im 65. Lebensjahr die Waldorfschule Saarbrücken und 1987 die Johannes-Schule. 1995 schied sie endgültig aus dem Lehrerberuf aus um in Chemnitz den Förderbereich zu unterstützen und die Waldorfbewegung in Lettland und Litauen voranzutreiben. Mit 84 Jahren fuhr sie noch im eigenen PKW (um Geld zu sparen) nach Lettland. Sie konnte beigeistert von den Gesprächen mit den Fernfahrern auf der Fähre nach Schweden erzählen.

Verbunden war sie ein Leben lang der englischen Sprache. Gelebt hat sie ein hartes Leben, wer bei Marina übernachtete (und das waren über viele Jahre alle neu einzustellenden Kollegen), musste Borretsch zum Frühstück essen (das gibt richtig viel Energie) und sein Bett jeden Tag ordentlich machen (daran kann man sehen, ob einer auch ordentlich ist). Dafür hat sie keinen mehr aus ihrem Gedächtnis entlassen.

Marina Lippke war besonders wach, wenn es um etwas Neues ging. Sie hat sich ein Leben lang die Kindheitskräfte bewahrt. Man konnte noch bis vor kurzem alberne Kinoabende mit ihr verbringen, sie begann mit über 80 noch das Modeln und erinnerte immer wieder an bevorstehende Aufgaben.

Verbunden war sie der Anthroposophie. Bis in die späten 80er Jahre hatte sie ihren eigenen Lesekreis, der wie alles bei Marina, für jeden offen war. Konflikte und Streit begegnete sie durch Bewusstseinsbildung. Oft etwas hilflos aber immer überzeugt und überzeugend.

Auch die Sonntagshandlung und der Freie Christliche Religionsunterricht waren Marina ein Anliegen. Marina besuchte gerne die Menschenweihehandlung.

Der größte Dank gilt allerdings ihrer großen Seele, die unterschiedlichste Menschen verbinden konnte. Marina war furchtlos in der Begegnung mit Menschen. Auch was Autoritäten anging. Lange nachdem sie nicht mehr an der Schule war konnten wir manche Probleme mit der Methode Marina Lippke lösen: Einfach offen und furchtlos aussprechen, was Sache ist. Beschreibend, nichtsbeschönigend, so wie sie es in ihren Zeugnissen, in ihrer klaren Handschrift in der letzten Nacht vor der Zeugniskonferenz, jahrelang geübt hatte. Diese nächtliche Arbeit begründete sie damit, dass vor den Ferien, wenn es warm wird, die Schüler ja noch wachsen. Und dabei entwickeln sie sich. Es wäre schade, wenn diese letzte Entwicklung nicht im Zeugnis erscheinen würde.

Marina war 93 Jahre als sie ging. Wie selbstverständlich ging sie zum Schuljahresende. Natürlich hat sie uns Aufgaben hinterlassen: Bau eines Werkstattgebäudes. Das sei für unsere Schüler besonders wichtig. Und weil Marina wie immer Recht hat, glaube ich daran, dass ein solches Gebäude entsteht.

Die neue Seite des Lebens

Manches ist eben anders. Ganz einfach. Gemein ist dabei nur, dass es zwar anders ist, aber man eben damit nicht gerechnet hat. Und jetzt kommt eine Instanz ins Spiel, die sich immer meldet und das manchmal recht heftig: das Gefühl. Zum Problem, dass man nicht damit gerechnet hat, kommt jetzt auch noch das verflixte Gefühl, das andeutet: oh, solche Situationen sind in der Vergangenheit schon mit einer kleinen Beklemmung belegt gewesen und schwupps, stellt sich diese ein. Das ist erst einmal kein Problem, denn noch gib es eine weitere Instanz und diese sagt: macht nichts, bewegen wir uns ein Stück zur Seite, dann stimmt es wieder.

So weit, so gut. Nur, was passiert, wenn aus „manchem“ „vieles“ wird? Dann ist vieles anders. Und mit dem Ganzen hat man nicht gerechnet. Und die Gefühle fangen an zu melden. Unmittelbar und heftig. Und der Wille weiß nicht mehr wohin. Da gerät einiges durcheinander und irgendwie ist nicht mehr klar, was nun wirklich Sache ist. Plötzlich kann man nicht mehr einfach auf Erfahrungen zurückgreifen und eine routinierte Lösung finden.

Vielleicht gibt es jemanden, dem Ähnliches passiert ist und der die Gefühlslage einordnen kann – dann hat man Glück. In diesem Fall gibt es richtige Hilfe – Mitleid und man kann auf Erfahrungen Anderer zurückgreifen.

Vielleicht gibt es eine Theorie zum Geschehen. Auch gut. Das ist die sachliche Variante. Auch hier kann es eine schnelle Lösung geben.

Wahrscheinlich ist es aber anders. Man glaubt dem nicht, der sagt, er kenne das und man zieht selten gerade zufällig das Buch aus dem Regal, in dem die Lösung steht. Eher ist es so, dass man mit großem Aufwand versucht sich selbst zu retten. Man zieht sich selbst aus dem Loch.

Nun, das ist der Berufsalltag des allein-kämpfenden der Alltag dessen, der ein Schwaches Team um sich herum hat, welches nicht gelernt hat, sich zu Orten, sich zu Richten und zu Kommunizieren.

Drei Dinge braucht es: Ortung, Richtung und Kommunikation.

Die Ortung bestimmt die Lage. Es ist der Wille. Hier stehen die einzelnen Teamer. Jeder hat sein Feld, seinen Platz und seine Aufgabe. Ist einer gerade verhindert, übernimmt der nächstgelegene. Geht es anders, wird es bemerkt: Hallo. Ich sehe bei Dir eine Abweichung. Macht nichts. Ich komme. Hoffentlich erlaubst Du mir das. Ich bestehe nicht darauf, denke aber gerade, dass es hilft.

Die Richtung ist das, mit dem man rechnet. Jetzt gemeinsam rechnet. Stimmt diese nicht mehr, kann sie korrigiert werden. Und das so, wie es die jeweilige Dynamik zulässt. Oft wird gar nicht die Richtung geändert, sondern lediglich die Geschwindigkeit oder die Dynamik. Hier können wir uns abstimmen und wir haben hier die einzige Möglichkeit überhaupt sozial zu sein. Die Gedanken oder besser die Ideen sind der Ort, der uns miteinander verbindet. Hier gibt es wirklichen Frieden und echte Gemeinsamkeit.

Und die Kommunikation lebt aus zwei Kräften: dem Sozialen und dem Antisozialen. Weniges kann die Kommunikation leisten. Sie ist reines Mittel der Verständigung. Im Hören sozial, im Sprechen antisozial. Keine Chance. Immer wieder sozial und immer wieder antisozial. Dennoch ist sie ein Schlüsselinstrument: Allein sie kann helfen die Brücken zu bauen, die notwendig sind. Dabei ist die Sprache nachrangig. Viel wichtiger ist die Körpersprache, die Körperspannung und das Charisma.

Und was ist die neue Seite des Lebens? Es ist der Wechsel zurück in die Klasse. Einst begann ich meine berufliche Laufban in einer ersten Klasse einer Waldorfschule. Damals war ich 27 Jahre jung und voller Ideale. Junger Familienvater sucht Arbeit. Diese habe ich bekommen und das erreicht, was ein junger Lehrer so erreichen kann: Mehr oder weniger zufriedene Eltern, ein wachsendes Kollegium und eine funktionierende Klasse. Jedenfalls mehr oder weniger funktionierend.

Schließlich hat sich der Lehrer um das Gebäude gekümmert und um die Finanzierung. So ist der Lehrer – für ein Jahr – in eine neue Rolle geschlüpft. Jene Rolle des Geschäftsführers, der nebenher unterrichtet. Die Schule wuchs und die Jahre vergingen. Aus einem Jahr wurden fünf und dann 13. Bis zum Tag X. Jener Tag, der drei Ströme vereinte: Einen Strom der Frage, einen Strom der Finanzenge und einen Strom der inneren Neugierde. Die Frage war: Wer übernimmt die verwaiste 7. Klasse? Die Finanzenge war: Wie wird im Saarland integriert? Und die Neugierde war: Kannst du das noch?

Und nun sind 7 Monate vergangen. Harte Monate. Aufstehen um 5.30 Uhr und spätestens um 22.15 Uhr im Bett. Auswendiglernen, vergessen, kommunizieren, Richtung finden, vorgeben, zuhören, lesen, korrigieren, einstecken, handeln, erzählen, vermitteln, aussprechen, ertragen, aushalten, anhalten, unterstützen, beobachten, helfen lassen, urteilen lassen, Ideen finden, und so weiter.

Und es ist anders. Nicht etwa, dass es nie gelänge, nein. Ab und zu ist es sehr gut und gleich wieder schlecht. Es hängt ganz wenig von der Vorbereitung ab. Es ist eine Laune. Es ist gewaltig. Es ist absurd. Und wenn ich davon im Kollegenkreis erzähle, regt dies oft die Gefühle und man lächelt. Jaja bekannt. Hier und an anderen Schulen. Jaja.

Nur: Was braucht es? Wo führt das hin? Werde ich dem gerecht, was von mir erwartet wird? Es ist eben anders. Ganz anders als ich es erwartet hätte. Und es ist heftig und vielschichtig. Ich lese Zeitung und finde die gleiche Gewalt im Alltag wieder. Die gleiche Verunsicherung. Die gleichen Standpunkte. Was soll es? Ist ja eh' nicht wirklich sinnvoll. Was soll schon werden? Ich schaffe das sowieso nicht. Lass es gut sein. Ich will meinen Spass, meine Ruhe und mein Erleben.

Wenn ich mich erinnere, was ich noch am Schreibtisch sitzend, gesehen habe, so waren es LehrerkollegInnen, die glaubten alles im Griff zu haben, Schüler, die unglücklich oder angepasst waren und Eltern, die verzweifelt waren. Heute bin ich ein Lehrer, der gerne alles im Griff hätte, dem alles Eigensein seiner Schülerinnen und Schüler nervt und der mit verzweifelten Eltern spricht. Wie schön. Und wo ist die Lösung?

Den Standpunkt in seiner Dynamik finden. Beweglich werden und Felder erschließen: Lernfeder, Bewegungsfelder, Sprachfelder und Gestaltungsfelder.

Die Kommunikation stärken. Erzählen, Spiegeln, Benennen und Aussprechen. Nichts im Ungewissen lassen und für alles Worte finden. Das, was uns Missverständnisse liefert, ist gewaltig. Sprache, Körpersprache und Körperspannung einsetzen, schweigen und sich besinnen.

Gemeinsame Absprachen treffen. Mit Schülern, KollegInnen, Eltern. Immer wieder. Aufschreiben, ändern, verstärken. Wahrnehmen und Wertschätzen. Immer nur beschreiben, nie urteilen. Ein Türchen offen lassen. Eine Frage nie als Antwort nehmen. Es keinem zu leicht machen und alles hinterfragen. Immer wieder Mut aufbringen und Reflexionen zulassen und einbringen. Das aussprechen, was gerade Sache ist.

Im Leben des handelnden Geschäftsführers spielen Prozesse eine wichtige Rolle. Ergebnisse sind schön, Prozesse wichtig. Im Leben des Lehrers gibt es nur Prozesse. Alles wird zum Ablauf und zum flow. Wer diesen flow nicht gestalten kann, hat ein Problem. Glück war das, was mich als Geschäftsführer erfolgreich machte. Und Glück ist das, was ich zum Lehrersein brauche.

Ich bewundere die glücklichen KollegInnen und ich schätze die wackeren Schüler, die jeden Tag aufs Neue kommen und sich einbringen. Allein, wo bleibt mein flow? Muss ich wirklich ein Jahr warten, bis ich in den flow komme?

Das rechte Gefühl, das rechte Wort und die rechte Idee. Das echte Gefühl, das echte Wort und die echte Idee.


R. Vieser